Elisabeth (Lis) Schröder
Kein Empfang
Ich war den ganzen Tag gelaufen und übte mich in Stille und Einsamkeit. Es war lange her, dass mein Atem so wie jetzt nur von meinem eigenen Schritt begleitet worden war und von sonst nichts. Nicht von einem Beat, nicht von einem Uhrenticken, nicht von Motorenrauschen, nicht von dem Summen eines Rechners, nicht von dem Atem einer anderen Person, nah an meinem Gesicht.
Ich hatte nicht gewusst, dass es hier noch so abgelegene Gegenden gibt. Dass man, wenn man an der Raststätte zu gehen beginnt und ein paar Dörfer sorgsam umwandert, tatsächlich in die Einöde gelangt, dass man stundenlang gehen kann, ohne einen Menschen zu sehen. Das Handy schwieg, tief unten im Rucksack. Über ihm hatte sich im Lauf des Tages eine Wasserflasche erwärmt, hatte kleingeschnittenes Obst in einer Plastikdose gegärt, hatte sich eine Kekspackung geleert, war eine Regenjacke nicht genutzt worden.
Ich hatte Pausen gemacht wann ich wollte. Zu Beginn war ich mehrmals ganz plötzlich beim Gehen über mein Alleinsein erschrocken, doch schließlich, als sich der schwüle Dunst gegen Nachmittag auflöste, der Himmel klar wurde und ein leichter Wind aufkam, begann ich glücklich zu werden.
Später ging ich über eine Wiese, die rechts und links von Felsen flankiert war, über einen sehr weichen Grasboden, und irgendwann war da Thymian, und Gestrüpp mit dicken, glänzenden Blättern, und wenn ich mich für ein kurzes Durchatmen auf einen Stein setzte, war er unter meinen Händen sehr warm. In diesem Moment musste ich selber beinahe lachen über mich, wie ich hier saß, so vollkommen zufriedengestellt, wie eine ganz simple Person. Naturberauscht in der Postmoderne – als ob ich das nicht besser wissen müsste.
Ich war erstaunt und ein wenig belustigt darüber, wie schnell ich in der Lage war, für einen Moment all das zu vergessen, was mir noch bis gestern, als ich losfuhr, so überaus wichtig und folgenreich erschienen war. Vor zwei Tagen hatte ich auf einem Stuhl vor einem Raum gesessen, in dem ich kurz vorher eine Prüfung nicht bestanden hatte – sagen wir mal zum Thema Postmoderne –, und ich hatte fieberhaft überlegt, was nun zu tun sei. Doch mir war nichts, gar nichts eingefallen. Ich hatte die Hände unter die Beine geschoben, die Schultern ratlos hochgezogen, hatte auf Topfpflanzen geschaut, in denen Schimmel war, und dann hatte ich in plötzlicher Hast das Gebäude verlassen mit dem Wunsch, es nie wieder zu betreten.
Abends musste ich mich übergeben, nachdem ich an verschiedene Dinge gedacht hatte: das aufgescheuchte Herumzukünfteln Gleichaltriger, die alles, was ihnen im Leben begegnete, auf seine Lebenslauftauglichkeit hin untersuchten, es in die Liste ihrer Referenzen aufnahmen oder verwarfen. Es machte mir Angst, wie sie immer noch pragmatischer, und noch biegsamer, und noch pragmatischer, und noch biegsamer wurden und versuchten, dabei die gute Laune zu behalten und sich nicht anmerken zu lassen, dass sich in ihnen etwas immer fester zusammenzog. Angst vor der Zukunft. Angst, doch nicht biegsam genug zu sein, trotz allem. Dann dachte ich an das Abfeiern von Perspektivlosigkeit in dem Kreis jener jungen Kopflastigen, die meine Freunde waren, an ihr hymnisches Scheitern am Alltäglichen, an diese Clique von Weltfremden, deren Mitte ich eine Zeit lang gewesen war – und dann kotzte ich und hasste sie alle und beneidete sie alle und war für den Rest des Abends tot.
Aber morgens wacht man auf und atmet mit dem Ticken der Küchenuhr, das Wasser fühlt sich auf der Haut genauso an wie immer, und man hat Hunger, wie immer, und man liest sogar ein bisschen in der Zeitung, wie immer, und man sucht etwas im Internet, und kotzen muss man nur noch einmal ganz kurz, nach dem Essen.
Und dann war er plötzlich da, der Entschluss: Ich habe meinen Rucksack genommen und ein paar Sachen eingepackt, und auf Wegen, über die es nicht viel zu sagen gibt, gelangte ich hierher. Und nun sitze ich hier und beobachte einen Vogelflug, blättere in einem kleinen Pflanzenbuch, das ich mir zuhause in die Jackentasche gesteckt habe, weine ein wenig und gehe dann weiter.
Mittlerweile steht die Sonne tief. Ich überlege, ob ich versuchen soll, zu einem der umliegenden Orte zu gelangen, bevor es dunkel wird, oder ob ich hier draußen schlafen soll, im Schlafsack. Ich mache das Handy an, nur so, und halte es in die Höhe. Kein Empfang.
In einiger Entfernung ist ein Mensch aufgetaucht. Er läuft ein ganzes Stück vor mir, er wandert mit dem Rücken zu mir. Er trägt keinen Rucksack, hat überhaupt nichts bei sich, deshalb ist sein Schritt leicht, er springt locker von Stein zu Stein. Jetzt hält er kurz an und sieht sich um. Im Gegenlicht der sinkenden Sonne kann ich nur seinen Umriss erkennen. Ich sehe, dass er weitergeht, zögere einen Moment, gehe ebenfalls weiter, er sieht sich um, geht weiter, ich gehe weiter, die Sonne sinkt tiefer, die Schatten werden lang, seine Silhouette wird schwärzer, mein Rucksack wird schwerer, Fledermäuse beginnen zu fliegen, die Steine werden kühl, und als wir einen kleinen Bach erreichen ist das Wasser schon nachtkalt. Er watet hindurch, ich wate hindurch, wir gehen weiter, wir sind jetzt ziemlich hoch, klettern über einen Felsgrat, und dahinter öffnet sich der Blick über eine kleine, merkwürdige Stadt. Der Mensch bleibt stehen. Ich kann jetzt sein Gesicht sehen, und ich kann darin keinen Grund erkennen ihm nicht zu vertrauen, also gehe ich zu ihm und grüße, und er erwidert meinen Gruß.
Brauchst du einen Platz für die Nacht?, fragt er.
Ja, antworte ich.
Es gebe eine Bedingung, sagt er. Kein Empfang von Fremden in der Stadt mit Handy und anderen Kommunikationsgeräten. Er werde diese Dinge für die Dauer meines Aufenthalts verwahren, fügt er hinzu und sieht mich ernst und abwartend an. Ich zögere kurz, werfe einen Blick auf die Reste von rötlichem Abendglühen am Himmel, ein leichtes Frösteln durchrieselt mich, und dann schüttele ich den Zweifel mit einem Achselzucken ab und lege das Telefon in seine ausgestreckte Hand. Er lässt es wortlos in seinen Hosentaschen verschwinden und gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen.
Die Stadt besteht aus Zelten und Bauwagen und allem Möglichen. Die Nacht besteht aus klammer Kühle, einigen wenigen Sternen und einem feinen Flüstern, das ich höre, während ich auf dem Rücken auf einer Matte in einem Zelt liege, in dem Werkzeuge aufbewahrt werden. Ein Flüstern von hier und dort, aus Zelten und Wagen oder von den Plätzen dazwischen, ein Flüstern, das seltsamerweise beruhigt, wie das Flüstern der Eltern im Nebenzimmer als man noch klein war. Nur dass man jetzt nicht mehr klein ist und keine Angst im Dunkeln hat und es wagt, um Mitternacht noch einmal aufzustehen und dem Flüstern zweier Stimmen nachzugehen und nachzusehen, zu wem diese Stimmen gehören, sich zu diesen Menschen setzt und sie befragt über das Leben in der merkwürdigen Stadt.
Ich erfahre, dass Tierhaltung und Gemüseanbau die Lebensgrundlage der Menschen hier bilden. Die damit verbundenen und andere Tätigkeiten, die die Sicherung ihrer Existenz betreffen, sind nach Können und Wollen unter den Bewohnern der Stadt aufgeteilt. In der Regel gehen sie diesen Tätigkeiten in einer Tageshälfte nach, während die andere Tageshälfte zur freien Verfügung steht, um sich persönlichen Interessen zu widmen. Auf diese Weise sei zum einen das Überleben der Bewohner gewährleistet, zum anderen aber auch das, was über das reine Überleben hinausgehe.
Und dann ist es plötzlich Morgen. Die Bergspitzen heben sich scharf gegen einen matten Himmel ab, der Vogelflug beginnt, die letzte Glut in einem offenen Feuer fällt in sich zusammen, und ich habe beschlossen, ein paar Tage zu bleiben.
Ich schließe mich der Gartengruppe an, die zu dieser Zeit im Jahr viel zu tun hat: Wir ernten und graben die Beete um, wir klauben die vielen kleinen Steine heraus und türmen sie auf die Gartenmauer, wir düngen, wir säen neu aus, wir jäten. Wenn die Arbeit getan ist, essen wir gemeinsam mit den anderen Gruppen, danach sind wir frei. In der freien Zeit verwickle ich die Menschen in Gespräche, und ich bemerke, dass man sowohl über das Hier und Jetzt, die Arbeit, den Alltag als auch über größere Fragen, Allgemeineres und Entscheidenderes mit ihnen sinnvoll sprechen kann. Eine große Ernsthaftigkeit prägt die Art und Weise, wie sie reden, aber auch eine kindliche Albernheit, wenn es einen Anlass dafür gibt. Und immer, so scheint es mir, sagen sie, was sie meinen. Nicht mehr und nicht weniger.
Nach einer Weile, als meine Gespräche mit ihnen sicherer geworden sind, erinnere ich mich einer Sache, die für mich, bevor ich hierher kam, die Würze jeder guten Unterhaltung gewesen ist. Ich hole sie wieder hervor, die Ironie, und überhaupt die Angewohnheit, etwas zu sagen und etwas anderes zu meinen. Und nachdem sie eine Weile erstaunt und befremdet gewesen sind, erinnern sich schließlich auch die Bewohner der merkwürdigen Stadt daran, dass sie einmal ein anderes Leben geführt haben. Ein Leben, in dem sie es gewohnt waren, jedes starke Gefühl unheimlich und verdächtig und sentimental zu finden und es sofort mit Ironie zu brechen.
Und nach einer kurzen Phase der Scheu und Befangenheit hat die Ironie wieder in ihrer Sprache, ihrem Denken einen Platz gefunden. Die Menschen sprechen nun ein wenig vorsichtiger, ein wenig unsicherer miteinander, forschen in den Augen und Gesten des Gegenübers nach Ernst oder Spott, nach dem Vorgeblichen und dem Eigentlichen. Viel Aufregung, Enttäuschung, aber auch intellektueller Genuss hält auf diese Weise Einzug in ihr Zusammensein, und es scheint mir, als falle es mir nun ein wenig leichter, in dieser Gemeinschaft heimisch zu werden. Ich stürze mich mit Eifer in meine Arbeit und esse gut, werde wieder kräftig und rund, und in meiner Freizeit stoße ich vielleicht zu einer Handvoll Leuten, die beisammensitzt und sich Geschichten erzählt, oder ich übe ein Instrument oder leihe mir ein Buch aus oder messe mich mit anderen im Wettlauf.
Und mit der Ironie, die plötzlich da ist und ebenso sehr eine Kerbe in manche Gespräche schlägt, wie sie andere beflügelt, entsteht bei den Menschen hier nach und nach wieder ein Bewusstsein für das, was zwischen ihnen liegt und nicht zu überbrücken ist, für das, was man nicht gemeinsam haben kann. Und dieses Bewusstsein formt unterschiedliche Standpunkte, die über die Diskussion von richtigem und falschem Handeln in den Arbeitsgruppen weit hinausgehen. Und schließlich scheint es, als gehe mit dem Entstehen dieser Standpunkte eine kleine, feine Verächtlichkeit einher, die immer dann aufblitzt, wenn die Meinungen offen gegeneinanderstehen. Und dies geschieht jetzt immer öfter, denn man beginnt nun, sich den Meinungen entsprechend in Gruppen zusammenzufinden, sich auszutauschen und abzugrenzen gegenüber den anderen.
Es gibt nun Menschen, die eine Veränderung der Tagesstruktur fordern, und, weil es vernünftiger sei, eine größere Spezialisierung des Einzelnen. Der Wechsel von der Garten- in die Viehgruppe solle nicht mehr ohne Weiteres möglich sein, da man bereits umfangreiche Kenntnisse in einem Bereich erworben habe, und von dieser Spezialisierung müsse die Gemeinschaft letztlich profitieren, sich noch besser entwickeln, noch lebenswerter werden. Die Arbeit in den Gruppen ist anstrengender geworden, weil jene leise Verächtlichkeit plötzlich dauerhaft unter den Menschen ist. Und weil beschlossen worden ist, dass man bei seiner Arbeit bleiben muss, auch wenn sie einem nicht mehr gefällt, sind nun einige erfüllt mit stillem Groll.
Der Groll fließt ein in das, was getan werden muss, er verwässert es. Die Ernte wird mager, das Essen wird fad, das Fell der Tiere verliert an Glanz, neuer Groll entsteht, und wenn ich jetzt mit den Menschen spreche und ihre Klagen höre, dann denke ich an die Zeit, als ich noch nicht hier bei ihnen war, als ich Zeitung gelesen und ferngesehen und Dinge im Internet gesucht und Vorlesungen besucht habe. Ich erzähle ihnen das, was ich weiß, mache Vorschläge, und oft gehen sie danach in Gedanken fort, mit gerunzelter Stirn, erinnern sich an die Zeit, als sie Zeitung gelesen und ferngesehen und Dinge im Internet gesucht oder Vorlesungen besucht haben. Es scheint mir, als würden sie Pläne machen, und in den Nächten schwillt das feine Flüstern in den Zelten und Wagen an zu einem Brausen, einem kühlen Wind, der über die Hochebene fegt, über die Zeltspitzen und Wagendächer der kleinen Stadt. Und dieser Wind kündigt den Herbst an, die Nächte werden kalt und das Flüstern steht als kalter Dampf in der Luft, und den Menschen stehen die Erinnerungen und die Pläne und die Zweifel ins Gesicht geschrieben, wenn sie das Vieh auf eine andere Weide treiben, den Garten winterfest machen, aus Kartoffeln und Rüben eine dünne Suppe kochen und die Suppe später schweigend gemeinsam essen.
Immer öfter gilt auch mir ein Blick mit gerunzelter Stirn, eine kleine Verächtlichkeit. Meine Ratschläge werden abgewiesen, und wenn ich mich in der freien Zeit zu ein paar Menschen setze, die etwas schreiben, dann kann es passieren, dass sie ihr Blatt mit dem Arm verdecken und sich kurz darauf zerstreuen. Und irgendwann, als ich einmal ein paar von ihnen nach etwas Belanglosem frage, da rücken sie schweigend zusammen zu einer Wand, die mir drohend gegenüber steht, und ich weiche zurück und gehe davon und verbringe den Rest des Abends mit Grübeln und stillem Groll.
Nachts träume ich, dass eine Gruppe Menschen vor meinem Zelt steht und flüstert und überlegt, was mit mir zu tun sei, denn ich habe die Prüfung nicht bestanden. Als ich aufwache ist mir übel, ich krieche aus dem Zelt und übergebe mich. Ich schöpfe mir etwas Regenwasser aus einem Eimer ins Gesicht, und als ich aufschaue, sehe ich vor einem der Wagen jenen Menschen stehen, dem ich damals hierher gefolgt bin. Er hält etwas in die Höhe. Ein plötzlicher, unerklärlicher Schrecken durchfährt mich, es ist, als hätte ich ein Zeichen gesehen, und mit einem Mal bin ich in kopfloser Hast. Ich renne zu ihm, ich sehe, dass es mein Handy ist, das er in der Hand hält, ich reiße es ihm aus der Hand, und während ich zum Zelt stürze, höre ich ihn hinter mir rufen: Kein Empfang, kein Empfang.
Im Zelt steht mein leerer Rucksack. Wahllos stopfe ich Dinge hinein, verheddere mich im Zelt als ich ihn mühsam aufschnalle, und dann bin ich draußen und laufe und laufe und schaue nicht zurück, laufe über die neblige Hochebene, stolpere über kleine Felsbrocken, stoße Dampfwolken in die diesige Luft, klettere über einen Felsgrat und laufe weiter, weiter.
Irgendwann mache ich halt, weil mir schwindelig ist. Es kommt mir vor, als sei ich Stunden gelaufen, mir ist schlecht, ich übergebe mich wieder und hocke mich keuchend auf einen Stein, der mir Kälte entgegenatmet. Ich habe das Handy immer noch in der Hand, ich stehe auf, halte es hoch, drehe mich um die eigene Achse und sehe plötzlich: Ich habe Empfang. Ich sehe einen Briefumschlag auf dem Display, jemand hat mir eine Nachricht geschrieben. Ich denke an mich inmitten meiner kopflastigen Freunde, an mich inmitten der Bewohner der merkwürdigen Stadt, und als sich etwas später mit plötzlicher Schärfe Sonnenlicht einen Weg durch den Nebel bahnt, muss ich selber beinahe lachen über mich, wie ich hier sitze und mir bedeutend vorkomme in diesem Moment, auf einem Stein, der sich langsam erwärmt, wie ich die Schultern hochziehe und die Hände unter die Beine schiebe und wie ich denke: Sie alle haben Unrecht. Ich habe die Prüfung bestanden.
© Elisabeth (Lis) Schröder 2014
Kein Empfang
Ich war den ganzen Tag gelaufen und übte mich in Stille und Einsamkeit. Es war lange her, dass mein Atem so wie jetzt nur von meinem eigenen Schritt begleitet worden war und von sonst nichts. Nicht von einem Beat, nicht von einem Uhrenticken, nicht von Motorenrauschen, nicht von dem Summen eines Rechners, nicht von dem Atem einer anderen Person, nah an meinem Gesicht.
Ich hatte nicht gewusst, dass es hier noch so abgelegene Gegenden gibt. Dass man, wenn man an der Raststätte zu gehen beginnt und ein paar Dörfer sorgsam umwandert, tatsächlich in die Einöde gelangt, dass man stundenlang gehen kann, ohne einen Menschen zu sehen. Das Handy schwieg, tief unten im Rucksack. Über ihm hatte sich im Lauf des Tages eine Wasserflasche erwärmt, hatte kleingeschnittenes Obst in einer Plastikdose gegärt, hatte sich eine Kekspackung geleert, war eine Regenjacke nicht genutzt worden.
Ich hatte Pausen gemacht wann ich wollte. Zu Beginn war ich mehrmals ganz plötzlich beim Gehen über mein Alleinsein erschrocken, doch schließlich, als sich der schwüle Dunst gegen Nachmittag auflöste, der Himmel klar wurde und ein leichter Wind aufkam, begann ich glücklich zu werden.
Später ging ich über eine Wiese, die rechts und links von Felsen flankiert war, über einen sehr weichen Grasboden, und irgendwann war da Thymian, und Gestrüpp mit dicken, glänzenden Blättern, und wenn ich mich für ein kurzes Durchatmen auf einen Stein setzte, war er unter meinen Händen sehr warm. In diesem Moment musste ich selber beinahe lachen über mich, wie ich hier saß, so vollkommen zufriedengestellt, wie eine ganz simple Person. Naturberauscht in der Postmoderne – als ob ich das nicht besser wissen müsste.
Ich war erstaunt und ein wenig belustigt darüber, wie schnell ich in der Lage war, für einen Moment all das zu vergessen, was mir noch bis gestern, als ich losfuhr, so überaus wichtig und folgenreich erschienen war. Vor zwei Tagen hatte ich auf einem Stuhl vor einem Raum gesessen, in dem ich kurz vorher eine Prüfung nicht bestanden hatte – sagen wir mal zum Thema Postmoderne –, und ich hatte fieberhaft überlegt, was nun zu tun sei. Doch mir war nichts, gar nichts eingefallen. Ich hatte die Hände unter die Beine geschoben, die Schultern ratlos hochgezogen, hatte auf Topfpflanzen geschaut, in denen Schimmel war, und dann hatte ich in plötzlicher Hast das Gebäude verlassen mit dem Wunsch, es nie wieder zu betreten.
Abends musste ich mich übergeben, nachdem ich an verschiedene Dinge gedacht hatte: das aufgescheuchte Herumzukünfteln Gleichaltriger, die alles, was ihnen im Leben begegnete, auf seine Lebenslauftauglichkeit hin untersuchten, es in die Liste ihrer Referenzen aufnahmen oder verwarfen. Es machte mir Angst, wie sie immer noch pragmatischer, und noch biegsamer, und noch pragmatischer, und noch biegsamer wurden und versuchten, dabei die gute Laune zu behalten und sich nicht anmerken zu lassen, dass sich in ihnen etwas immer fester zusammenzog. Angst vor der Zukunft. Angst, doch nicht biegsam genug zu sein, trotz allem. Dann dachte ich an das Abfeiern von Perspektivlosigkeit in dem Kreis jener jungen Kopflastigen, die meine Freunde waren, an ihr hymnisches Scheitern am Alltäglichen, an diese Clique von Weltfremden, deren Mitte ich eine Zeit lang gewesen war – und dann kotzte ich und hasste sie alle und beneidete sie alle und war für den Rest des Abends tot.
Aber morgens wacht man auf und atmet mit dem Ticken der Küchenuhr, das Wasser fühlt sich auf der Haut genauso an wie immer, und man hat Hunger, wie immer, und man liest sogar ein bisschen in der Zeitung, wie immer, und man sucht etwas im Internet, und kotzen muss man nur noch einmal ganz kurz, nach dem Essen.
Und dann war er plötzlich da, der Entschluss: Ich habe meinen Rucksack genommen und ein paar Sachen eingepackt, und auf Wegen, über die es nicht viel zu sagen gibt, gelangte ich hierher. Und nun sitze ich hier und beobachte einen Vogelflug, blättere in einem kleinen Pflanzenbuch, das ich mir zuhause in die Jackentasche gesteckt habe, weine ein wenig und gehe dann weiter.
Mittlerweile steht die Sonne tief. Ich überlege, ob ich versuchen soll, zu einem der umliegenden Orte zu gelangen, bevor es dunkel wird, oder ob ich hier draußen schlafen soll, im Schlafsack. Ich mache das Handy an, nur so, und halte es in die Höhe. Kein Empfang.
In einiger Entfernung ist ein Mensch aufgetaucht. Er läuft ein ganzes Stück vor mir, er wandert mit dem Rücken zu mir. Er trägt keinen Rucksack, hat überhaupt nichts bei sich, deshalb ist sein Schritt leicht, er springt locker von Stein zu Stein. Jetzt hält er kurz an und sieht sich um. Im Gegenlicht der sinkenden Sonne kann ich nur seinen Umriss erkennen. Ich sehe, dass er weitergeht, zögere einen Moment, gehe ebenfalls weiter, er sieht sich um, geht weiter, ich gehe weiter, die Sonne sinkt tiefer, die Schatten werden lang, seine Silhouette wird schwärzer, mein Rucksack wird schwerer, Fledermäuse beginnen zu fliegen, die Steine werden kühl, und als wir einen kleinen Bach erreichen ist das Wasser schon nachtkalt. Er watet hindurch, ich wate hindurch, wir gehen weiter, wir sind jetzt ziemlich hoch, klettern über einen Felsgrat, und dahinter öffnet sich der Blick über eine kleine, merkwürdige Stadt. Der Mensch bleibt stehen. Ich kann jetzt sein Gesicht sehen, und ich kann darin keinen Grund erkennen ihm nicht zu vertrauen, also gehe ich zu ihm und grüße, und er erwidert meinen Gruß.
Brauchst du einen Platz für die Nacht?, fragt er.
Ja, antworte ich.
Es gebe eine Bedingung, sagt er. Kein Empfang von Fremden in der Stadt mit Handy und anderen Kommunikationsgeräten. Er werde diese Dinge für die Dauer meines Aufenthalts verwahren, fügt er hinzu und sieht mich ernst und abwartend an. Ich zögere kurz, werfe einen Blick auf die Reste von rötlichem Abendglühen am Himmel, ein leichtes Frösteln durchrieselt mich, und dann schüttele ich den Zweifel mit einem Achselzucken ab und lege das Telefon in seine ausgestreckte Hand. Er lässt es wortlos in seinen Hosentaschen verschwinden und gibt mir ein Zeichen, ihm zu folgen.
Die Stadt besteht aus Zelten und Bauwagen und allem Möglichen. Die Nacht besteht aus klammer Kühle, einigen wenigen Sternen und einem feinen Flüstern, das ich höre, während ich auf dem Rücken auf einer Matte in einem Zelt liege, in dem Werkzeuge aufbewahrt werden. Ein Flüstern von hier und dort, aus Zelten und Wagen oder von den Plätzen dazwischen, ein Flüstern, das seltsamerweise beruhigt, wie das Flüstern der Eltern im Nebenzimmer als man noch klein war. Nur dass man jetzt nicht mehr klein ist und keine Angst im Dunkeln hat und es wagt, um Mitternacht noch einmal aufzustehen und dem Flüstern zweier Stimmen nachzugehen und nachzusehen, zu wem diese Stimmen gehören, sich zu diesen Menschen setzt und sie befragt über das Leben in der merkwürdigen Stadt.
Ich erfahre, dass Tierhaltung und Gemüseanbau die Lebensgrundlage der Menschen hier bilden. Die damit verbundenen und andere Tätigkeiten, die die Sicherung ihrer Existenz betreffen, sind nach Können und Wollen unter den Bewohnern der Stadt aufgeteilt. In der Regel gehen sie diesen Tätigkeiten in einer Tageshälfte nach, während die andere Tageshälfte zur freien Verfügung steht, um sich persönlichen Interessen zu widmen. Auf diese Weise sei zum einen das Überleben der Bewohner gewährleistet, zum anderen aber auch das, was über das reine Überleben hinausgehe.
Und dann ist es plötzlich Morgen. Die Bergspitzen heben sich scharf gegen einen matten Himmel ab, der Vogelflug beginnt, die letzte Glut in einem offenen Feuer fällt in sich zusammen, und ich habe beschlossen, ein paar Tage zu bleiben.
Ich schließe mich der Gartengruppe an, die zu dieser Zeit im Jahr viel zu tun hat: Wir ernten und graben die Beete um, wir klauben die vielen kleinen Steine heraus und türmen sie auf die Gartenmauer, wir düngen, wir säen neu aus, wir jäten. Wenn die Arbeit getan ist, essen wir gemeinsam mit den anderen Gruppen, danach sind wir frei. In der freien Zeit verwickle ich die Menschen in Gespräche, und ich bemerke, dass man sowohl über das Hier und Jetzt, die Arbeit, den Alltag als auch über größere Fragen, Allgemeineres und Entscheidenderes mit ihnen sinnvoll sprechen kann. Eine große Ernsthaftigkeit prägt die Art und Weise, wie sie reden, aber auch eine kindliche Albernheit, wenn es einen Anlass dafür gibt. Und immer, so scheint es mir, sagen sie, was sie meinen. Nicht mehr und nicht weniger.
Nach einer Weile, als meine Gespräche mit ihnen sicherer geworden sind, erinnere ich mich einer Sache, die für mich, bevor ich hierher kam, die Würze jeder guten Unterhaltung gewesen ist. Ich hole sie wieder hervor, die Ironie, und überhaupt die Angewohnheit, etwas zu sagen und etwas anderes zu meinen. Und nachdem sie eine Weile erstaunt und befremdet gewesen sind, erinnern sich schließlich auch die Bewohner der merkwürdigen Stadt daran, dass sie einmal ein anderes Leben geführt haben. Ein Leben, in dem sie es gewohnt waren, jedes starke Gefühl unheimlich und verdächtig und sentimental zu finden und es sofort mit Ironie zu brechen.
Und nach einer kurzen Phase der Scheu und Befangenheit hat die Ironie wieder in ihrer Sprache, ihrem Denken einen Platz gefunden. Die Menschen sprechen nun ein wenig vorsichtiger, ein wenig unsicherer miteinander, forschen in den Augen und Gesten des Gegenübers nach Ernst oder Spott, nach dem Vorgeblichen und dem Eigentlichen. Viel Aufregung, Enttäuschung, aber auch intellektueller Genuss hält auf diese Weise Einzug in ihr Zusammensein, und es scheint mir, als falle es mir nun ein wenig leichter, in dieser Gemeinschaft heimisch zu werden. Ich stürze mich mit Eifer in meine Arbeit und esse gut, werde wieder kräftig und rund, und in meiner Freizeit stoße ich vielleicht zu einer Handvoll Leuten, die beisammensitzt und sich Geschichten erzählt, oder ich übe ein Instrument oder leihe mir ein Buch aus oder messe mich mit anderen im Wettlauf.
Und mit der Ironie, die plötzlich da ist und ebenso sehr eine Kerbe in manche Gespräche schlägt, wie sie andere beflügelt, entsteht bei den Menschen hier nach und nach wieder ein Bewusstsein für das, was zwischen ihnen liegt und nicht zu überbrücken ist, für das, was man nicht gemeinsam haben kann. Und dieses Bewusstsein formt unterschiedliche Standpunkte, die über die Diskussion von richtigem und falschem Handeln in den Arbeitsgruppen weit hinausgehen. Und schließlich scheint es, als gehe mit dem Entstehen dieser Standpunkte eine kleine, feine Verächtlichkeit einher, die immer dann aufblitzt, wenn die Meinungen offen gegeneinanderstehen. Und dies geschieht jetzt immer öfter, denn man beginnt nun, sich den Meinungen entsprechend in Gruppen zusammenzufinden, sich auszutauschen und abzugrenzen gegenüber den anderen.
Es gibt nun Menschen, die eine Veränderung der Tagesstruktur fordern, und, weil es vernünftiger sei, eine größere Spezialisierung des Einzelnen. Der Wechsel von der Garten- in die Viehgruppe solle nicht mehr ohne Weiteres möglich sein, da man bereits umfangreiche Kenntnisse in einem Bereich erworben habe, und von dieser Spezialisierung müsse die Gemeinschaft letztlich profitieren, sich noch besser entwickeln, noch lebenswerter werden. Die Arbeit in den Gruppen ist anstrengender geworden, weil jene leise Verächtlichkeit plötzlich dauerhaft unter den Menschen ist. Und weil beschlossen worden ist, dass man bei seiner Arbeit bleiben muss, auch wenn sie einem nicht mehr gefällt, sind nun einige erfüllt mit stillem Groll.
Der Groll fließt ein in das, was getan werden muss, er verwässert es. Die Ernte wird mager, das Essen wird fad, das Fell der Tiere verliert an Glanz, neuer Groll entsteht, und wenn ich jetzt mit den Menschen spreche und ihre Klagen höre, dann denke ich an die Zeit, als ich noch nicht hier bei ihnen war, als ich Zeitung gelesen und ferngesehen und Dinge im Internet gesucht und Vorlesungen besucht habe. Ich erzähle ihnen das, was ich weiß, mache Vorschläge, und oft gehen sie danach in Gedanken fort, mit gerunzelter Stirn, erinnern sich an die Zeit, als sie Zeitung gelesen und ferngesehen und Dinge im Internet gesucht oder Vorlesungen besucht haben. Es scheint mir, als würden sie Pläne machen, und in den Nächten schwillt das feine Flüstern in den Zelten und Wagen an zu einem Brausen, einem kühlen Wind, der über die Hochebene fegt, über die Zeltspitzen und Wagendächer der kleinen Stadt. Und dieser Wind kündigt den Herbst an, die Nächte werden kalt und das Flüstern steht als kalter Dampf in der Luft, und den Menschen stehen die Erinnerungen und die Pläne und die Zweifel ins Gesicht geschrieben, wenn sie das Vieh auf eine andere Weide treiben, den Garten winterfest machen, aus Kartoffeln und Rüben eine dünne Suppe kochen und die Suppe später schweigend gemeinsam essen.
Immer öfter gilt auch mir ein Blick mit gerunzelter Stirn, eine kleine Verächtlichkeit. Meine Ratschläge werden abgewiesen, und wenn ich mich in der freien Zeit zu ein paar Menschen setze, die etwas schreiben, dann kann es passieren, dass sie ihr Blatt mit dem Arm verdecken und sich kurz darauf zerstreuen. Und irgendwann, als ich einmal ein paar von ihnen nach etwas Belanglosem frage, da rücken sie schweigend zusammen zu einer Wand, die mir drohend gegenüber steht, und ich weiche zurück und gehe davon und verbringe den Rest des Abends mit Grübeln und stillem Groll.
Nachts träume ich, dass eine Gruppe Menschen vor meinem Zelt steht und flüstert und überlegt, was mit mir zu tun sei, denn ich habe die Prüfung nicht bestanden. Als ich aufwache ist mir übel, ich krieche aus dem Zelt und übergebe mich. Ich schöpfe mir etwas Regenwasser aus einem Eimer ins Gesicht, und als ich aufschaue, sehe ich vor einem der Wagen jenen Menschen stehen, dem ich damals hierher gefolgt bin. Er hält etwas in die Höhe. Ein plötzlicher, unerklärlicher Schrecken durchfährt mich, es ist, als hätte ich ein Zeichen gesehen, und mit einem Mal bin ich in kopfloser Hast. Ich renne zu ihm, ich sehe, dass es mein Handy ist, das er in der Hand hält, ich reiße es ihm aus der Hand, und während ich zum Zelt stürze, höre ich ihn hinter mir rufen: Kein Empfang, kein Empfang.
Im Zelt steht mein leerer Rucksack. Wahllos stopfe ich Dinge hinein, verheddere mich im Zelt als ich ihn mühsam aufschnalle, und dann bin ich draußen und laufe und laufe und schaue nicht zurück, laufe über die neblige Hochebene, stolpere über kleine Felsbrocken, stoße Dampfwolken in die diesige Luft, klettere über einen Felsgrat und laufe weiter, weiter.
Irgendwann mache ich halt, weil mir schwindelig ist. Es kommt mir vor, als sei ich Stunden gelaufen, mir ist schlecht, ich übergebe mich wieder und hocke mich keuchend auf einen Stein, der mir Kälte entgegenatmet. Ich habe das Handy immer noch in der Hand, ich stehe auf, halte es hoch, drehe mich um die eigene Achse und sehe plötzlich: Ich habe Empfang. Ich sehe einen Briefumschlag auf dem Display, jemand hat mir eine Nachricht geschrieben. Ich denke an mich inmitten meiner kopflastigen Freunde, an mich inmitten der Bewohner der merkwürdigen Stadt, und als sich etwas später mit plötzlicher Schärfe Sonnenlicht einen Weg durch den Nebel bahnt, muss ich selber beinahe lachen über mich, wie ich hier sitze und mir bedeutend vorkomme in diesem Moment, auf einem Stein, der sich langsam erwärmt, wie ich die Schultern hochziehe und die Hände unter die Beine schiebe und wie ich denke: Sie alle haben Unrecht. Ich habe die Prüfung bestanden.
© Elisabeth (Lis) Schröder 2014